Andacht von Landessuperintendent Dieter Rathing

Hat Jesus eigentlich nur geGOTTet?

Neulich beim suchenden Blättern durch die Evangelien. Ich lese die Anfänge der biblischen Abschnitte. Jesus am Meer, Jesus in der Synagoge, Jesus auf dem Berg. Jesus „treibt seine Jünger“, steigt in Boote, geht von irgendwo weg oder kommt irgendwo an. Jordanufer, Tyrus, Galiläa. Besaida, Kapernaum, Jericho, Betfage, Jerusalem. Immer wieder „eine große Menge“ um ihn, mal 4000, mal 5000. Und „er sprach“ und „er sprach“ und „er sprach“. Blinde, Taubstumme, Besessene, Aussätzige, Kinder. Der Hauptmann, die Schwiegermutter, der Jüngling, Maria und Martha. Antworten und lehren, gleichnissen und speisen, verkündigen, vergeben, verfluchen, segnen und heilen. Auf Hochzeiten Speisemeister. Im Kornfeld Streitschlichter. Selbst in der Wüste nicht allein. Zum Teufel! Hat Jesus eigentlich nur gegottet?

Vor meinen Augen erscheint aus Pasolinis Film „Der Menschensohn“ ein über die Hügel Galiläas rennender Jesus. Der vom großen Ziel Getriebene und Gejagte, mit Tempomat auf Bleifuß gestellt. Muße Fehlanzeige. Vor lauter Aufgaben atemlos. Vom Regime des guten Worts und der guten Tat regiert. Einer, der nur in dem besteht, was er für andere tut. Dienstbote der Erlösung. Rettungsfunktionär. Die Person als Inbegriff des Programms. Seine Persönlichkeit geht restlos auf in ihren Pflichten. Im Himmel für den Vater, auf Erden für die Menschen. Heilsbeauftragter 24/7/365.

In der Tat, die klassische Theologie sieht in Jesus eine fest verplante Größe. Von Ewigkeit her steht fest, welche Aufgaben er zu erfüllen hat. Ja, er ist nichts anderes als der „Vollbringer von Aufgaben“, an deren Ende die Erlösung des Menschgeschlechts steht. Das Bild einer selbstständigen Persönlichkeit mit ihr eigenen Spielräumen ist nicht denkbar. Nach dieser, ganz von der Aufgabe her bestimmten Lesart seines Lebens konnte Jesus also nichts anderes als „gotten“.

Der Jesus, den ich in seinem „Erlösungswerk“ – auch! – sehe, ist dagegen manchmal arbeitslos, er hängt zuweilen auch mal rum. Die längste Zeit seines irdischen Weges verbringt er als unbekannter Handwerker, bei Markus wird er als Zimmermann angesprochen. In den Augen seiner Sippe ist er ein Sonderling, der schleunigst in die häusliche Disziplin zurückgebracht werden muss. In allen Evangelien gibt es beiläufig die Formulierung „Jesus ging allein“ irgendwohin – und da ist dann auch nicht vom Beten die Rede. Jesus geht einfach mal allein irgendwo hin.

Ich gebe zu: Das Spontane und Zufällige, die „Freiräume“ an ihm muss ich mehr ahnen, als dass die Evangelien sie benennen. Die „Freiräume“ werden nicht erzählt. Und doch finde ich: Das theologische Konzept, Jesu Lebensgang in einen gezielten Verlauf zu bringen, hat etwas Gewalttätiges an sich, hat zumindest mit vielen Ausblendungen zu tun.

Vor der Sturmstillung hat Jesus im Boot gelegen und geschlafen. In der Auslegungsgeschichte wird dieser Schlaf oft als Teil seiner Aufgabe gedeutet. Die Aufgabe hieß: den Jüngern Vertrauen demonstrieren. Aber hat Jesus nur geschlafen, um dann etwas Heilsrelevantes zu sagen oder zu tun?

Soll Jesus wirklich mit seinen Jüngern ins Kornfeld gegangen sein in der festen Erwartung, dass die dummen Jungs irgendwann Ähren raufen werden und daraufhin die Pharisäer aus der Furche kommen? Oder kann’s nicht auch oder vielleicht sogar zuerst ein Stück schöpfungsfreundlicher Gemütlichkeit gewesen sein?

Und dann steht da ein ebenso schlichter wie schöner Satz bei Matthäus: “Da ließ Jesus das Volk gehen und kam heim.“ (Mt. 13,36) Jesus ist also auch einfach mal heimgekommen. Darf es nur eine Vermutung sein, dass er es genossen hat? Darf ich nur spekulieren, ihm wäre auch mal langweilig gewesen? Ich weiß, das ist in der geschäftigen Atmosphäre unserer Welt und unserer getriebigen Kirche ein kaum denkbarer Zustand. In der „Zeit für Freiräume“ erlaube ich mir, diesen Zustand zu denken.

Und ich denke mir weiter, es hätte bei Jesus auch ein freies Gefallen an den Menschen gegeben und eine ganz zwecklose Freude an der Schöpfung. Ich glaube, er konnte die Liebe zwischen Zweien mitfeiern in einer Hochzeit und die Einladung zu einem guten Essen annehmen. Auch das könnte für den göttlichen Logos doch etwas bedeuten: Die Gastfreundschaft der Kreaturen einfach genießen.

Wenn ich unbefangen im 1. Buch Mose lese, wie liebevoll und feierlich das Land der Schöpfung vor meinen Augen ausgebreitet und für gut, ja für sehr gut befunden wird, dann entsteht spontan die Erwartung, dass diese Wirklichkeit es für immer wert sein müsse, beachtet und geschätzt zu werden. Auch von himself. Auch ohne den Spezialauftrag Erlösung.

Mit welchem Spezialauftrag auch immer Sie unterwegs sind: Gotten Sie gerne. Aber vergessen Sie das Heimkommen nicht.

Landessuperintendent
Dieter Rathing