Andacht zur Jahreslosung 2023

Du bist ein Gott, der mich sieht.

1. Mose 16,13

Regionalbischof Dr. Stephan Schaede

Sehen – gesehen werden. Das ist kostbar, ist, wie es dieser Tage gern heißt, „wertschätzend“. Gut und schön. Wir aber frieren. Uns ist kalt, Gott. Nicht nur unser Körper friert. Auch das Herz. Denen, die unter uns im krassen Nachteil leben, hat der letzte Herbst das biedere Wort Wärmestube beschert. Und wie wird erst in der Ukraine gefroren, einer Weltgegend ohne soziale Infrastruktur. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ich frage mich: Friert Gott auch, wenn er sieht, wie die Welt friert? Ist das wirklich sein Name dieser Tage: „Du bist ein Gott, der mich ansieht“? Hilft beim Frieren, gesehen zu werden? Ist nicht vielmehr die Vorstellung von einem Gott, der sieht, wie Menschen frieren, zum Erkälten? Eher also: „Du bist zurzeit ein Gott zum Erkälten.“
Allerdings: Den fossilen Energiekrieg, den uns das schreckliche Kriegsgeschehen in der Ukraine beschert hat, den haben wir nicht Gott, den haben wir uns selber zuzuschreiben. Gott ist kein Gott zum Erkälten. Vielmehr hätte Gott angesichts der Krisen, die wir uns selbst bescheren, das Recht, ein über die Welt verschnupfter Gott zu sein. Und so richtet sich an uns die Frage, ob und wie wir die aufbrechenden selbstverschuldeten sozialen Gräben überwinden.
Gibt die Ursprungsgeschichte aus dem 1. Buch Mose dazu einen Hinweis? „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Das meint Hagar, eine ägyptische Magd. Magd von Sara, der Frau Abrahams, ist sie. Sara bekommt kein Kind. Sara schlägt Abraham Hagar als Leihmutter vor, um durch sie ein eigenes Kind zu bekommen. Hagar wird schwanger. Hagar demütigt Sara, weil unfruchtbar. Sara demütigt Hagar, weil Magd. Hagar flieht zu einer Wasserquelle in die Wüste. Da erscheint ihr ein Engel, ermutigt sie, anders und neu in ihren Lebenskontext zurückzukehren. Er verspricht ihr, Hagar, im Namen Gottes reiche Nachkommenschaft, sagt der Hochschwangeren, dass das Kind Ismael heißen solle. Und da und deshalb nennt sie Gott: „Du bist ein Gott, der mich ansieht!“
In dieser Geschichte zeigt sich: Nicht im ungetrübten Freudentaumel, sondern noch in der Wüste entsteht für Hagar Zukunftslebensdurst, und zwar ein Zukunftslebensdurst, der auf neue durchaus anstrengende Weise gestillt werden wird. Nichts läuft wie geplant. Aus der Leihmutterschaft für Sara wird nichts. Ismael bleibt Hagars Sohn, schert aus, geht andere Pfade. „Du bist ein Gott, der mich ansieht!“
Diese Einsicht steht für einen Gott, der eine neue menschliche Wüstenlage erkennt. Und der zuspricht, dass veränderte, aber belastbare Lebensperspektiven anstehen. Wer ja dazu sagt, hat keine Angst vor veränderten Lebensbedingungen, riskiert Verzicht, ist bereit, das Leben anders und mit andern auf neuen sozialen Pfaden zu teilen.

Regionalbischof Dr. Stephan Schaede